Greta Thunberg vor den UN

Was uns heute fehlt, ist vielleicht ein Mahner wie Sokrates. Ein alter weiser Mann, der uns wegen unseres leichtfertigen Dahinlebens, unserem Egoismus beim Konsumieren, unserer spießigen Auffassung von Recht und Unrecht tagtäglich ins Gewissen redet. Er würde uns die Folgen unseres hemmungslosen Umgangs mit der Natur bildhaft vor Augen führen – bis wir ihn wieder zu unrecht anklagen und zum Schierlingsbecher verurteilen würden, damit seine pointierten Wahrheiten uns nicht länger den Spaß am weitermachen wie bisher verderben könnten:

„Jetzt glaubt ihr euch meiner und damit der Rechenschaft über euer Leben entledigt zu haben. Es wird aber ganz entgegengesetzt für euch ablaufen, wie ich behaupte. Viele werden es sein, die euch vor eure Richter ziehen, welche ich bisher nur zurückgehalten habe, die ihr aber gar nicht bemerkt habt. Und sie werden euch umso beschwerlicher werden, je jünger sie sind, und ihr desto unwilliger.“

Apologie des Sokrates von Platon

Greta statt Sokrates

Wir haben Greta Thunberg statt Sokrates. Sie fordert uns ähnlich heraus und lässt uns an unserem Selbstverständnis zweifeln. Wir wissen nicht recht, wie wir auf ihre Anklagen reagieren können. Außer vielleicht mit den ewig gestrigen Elternweisheiten, weil man erst mal etwas lernen müsse, um überhaupt richtig zu verstehen. Gerne wird auch moralisierend auf die generelle Schulpflicht verwiesen, die höher einzuordnen sei als die Überzeugungen der jungen Schwedin und millionen anderer Kinder weltweit, die freitags auf die dringenden Mahnungen der Wissenschaft vor den Gefahren massiver Klimaveränderungen hinweisen.

Je jünger sie sind, umso beschwerlicher für uns, die wir desto unwilliger reagieren.

Selbst eine vermeintliche Erkrankung Greta Thunbergs wird für wohlmeinende Relativierungen wie für bösartige Diskreditierungsversuche genutzt. In unserer kulturlosen Zeit machen eben die Dümmsten Furore mit massenhaft verbreiteten Schmutzbeiträgen. Ihre Wortschatzdefizite und Argumentlosigkeit verbergen sie hinter obszönen Beleidigungen. So hat Greta Thunberg anscheinend eine mächtige Gegnerschaft und manche meinen, die Sache sei bald ausgestanden und vorbei.

Doch dieses Kind ist nicht einzuschüchtern. Greta Thunberg entwaffnet ihre Gegner regelmäßig mit großer Sachkenntnis und respektabler Eloquenz:

„Ich verstehe nicht, warum erwachsene Menschen ihre Zeit lieber damit verbringen, Kinder und Jugendliche für ihre Hinweise auf die Wissenschaft zu verspotten und einzuschüchtern, anstatt etwas Gutes zu tun.“

Es geht bei unserer Unfähigkeit, angemessen auf die Vorwürfe von Greta Thunberg wie der Jugend zu reagieren, nicht nur um die Klimakrise, die als „Klimawandel“ verharmlost wird. Daß wir diese Krise alle gemeinsam verursachen, kann nicht sinnvoll bezweifelt werden. Unser Unbehagen kommt auch von unserem Wissen über all die anderen Zustände weltweit, die wir zu verantworten haben und unseren Enkeln als ein krankes Erbe hinterlassen:

Kriege, Hunger, Vertreibung, Flucht, Vergewaltigung, Missbrauch, Folter, Atommüll, Umweltgifte, Artensterben. Eine Unkultur, die zu ihrer Unterhaltung allabendlich vor dem Fernseher Mord und Totschlag im Übermaß rezipiert, bis sie unfähig zur Empathie mit hungernden Kindern und ertrinkenden Flüchtlingen wird. Die ihrer Jugend per Internet den Zugang zu Pornografie, Hasskommentaren und Gewaltphantasien verschafft. Fragwürdige Mächte, die Waffen anhäufen, um alles Leben auf der Erde gleich zwanzig- oder fünzigmal hintereinander auslöschen zu können.

Das alles kulminiert im ängstlichen Blick des Mädchens. Es ist der Blick von millionen Kindern weltweit. Wir sollten uns daranmachen, den Kindern bessere Antworten zu geben, als ihnen nur den überkommenen alten Unsinn zu wiederholen, an den wir selbst nicht mehr glauben.

Beitrag überarbeitet und gekürzt; zuerst 2019 veröffentlicht.